Die Rolle der Ärzte
Schon Anfang 1933 waren sechs Prozent aller Ärzte Mitglied in einer nationalsozialistischen Organisation. Damit war der Organisationsgrad der Ärzte in der staatstragenden Partei und ihren Untergliederungen deutlich höher als der anderer vergleichbarer Berufsgruppen.
Ärzte beteiligten sich aktiv am Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten. Sie nutzten Euthanasieopfer für medizinische Versuche und Studien, trieben damit auch ihre eigene Karriere voran. Etliche hatten dabei nicht einmal ein schlechtes Gewissen, denn Schwerbehinderte waren nach ihren Ansichten lebensunwerter Ballast. Die Tötung interpretierten sie als „Gnadentod“ für die Betroffenen und „Erlösung“ für die Verwandten. Dabei beriefen sie sich auf Vordenker der Rassenhygiene wie beispielsweise Dr. Alfred Ploetz, der bereits Ende des 19. Jahrhunderts formulierte: „Stellt es sich … heraus, dass das Neugeborene ein schwächliches oder missgestaltetes Kind ist, so wird ihm von dem Aerzte-Collegium, …, ein sanfter Tod bereitet, sagen wir durch eine kleine Dose Morphium.“
Obwohl der „Gnadentod“ vor allem seit etwa 1920 in der Gesellschaft intensiv diskutiert wurde und auch etliche prominente Befürworter fand, trauten sich selbst die Nazis und ihre Helfer in Weiß nicht, ihr Euthanasieprogramm ganz offensiv zu vertreten. Denn Euthanasie war auch unter Befürwortern der Rassenhygiene keinesfalls unumstritten – etliche lehnten sie komplett ab. Deshalb verschleierten die am Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten Beteiligten ihre wahren Ambitionen. Über die perfiden Lügen berichtete der Ehemann einer Schwester der Heil- und Pflege-Anstalt Leipzig-Dösen: „Es gab dort eine Spezialstation, auf der diejenigen Kinder untergebracht waren, deren schwere Leiden zum Anlaß ihrer Tötung genommen wurden … Was meine Frau am meisten empörte, war die Unaufrichtigkeit gegenüber den schwergeprüften Eltern, denn ihnen wurden die wahren Absichten verschwiegen. Vielmehr wurde ihnen der Eindruck vermittelt, unter Umständen medizinische Hilfe leisten zu können. Meine Frau hat selbst erlebt, daß Kinder zu Scheinbestrahlungen in die Röntgenabteilung gebracht wurden.“
Die Hebammenlisten
Hebammen, Ärzte in Entbindungsanstalten und Geburtshilfe-Abteilungen von Krankenhäusern sowie Allgemeinärzte wurden von den Nationalsozialisten zu Mithelfern des Euthanasieprogramms gemacht: Ein streng vertraulicher Runderlass vom 18. August 1939 des Reichsministeriums des Innern verpflichtete sie, „missgestaltete usw. Neugeborene“ an das zuständige Gesundheitsamt zu melden.
Die Einleitung erweckte den Eindruck, das Ziel des Ministeriums sei eine wissenschaftliche Untersuchung, um Kindern zu helfen, die sich in einem ernsten gesundheitlichen Zustand befanden. Die wahren Gründe wurden zu keinem Zeitpunkt offenbart. Hebammen und Ärzte wurden aufgefordert, sämtliche Neugeborenen sowie Kinder unter drei Jahren zu melden, bei denen die folgenden Befunde festgestellt werden konnten:
1. Idiotie sowie Mongolismus (besonders Fälle, die mit Blindheit und Taubheit verbunden sind),
2. Mikrozephalie (abnorme Kleinheit des Kopfes, besonders des Hirnschädels),
3. Hydrozephalus (Wasserkopf) schweren bzw. fortschreitenden Grades,
4. Mißbildungen jeder Art, besonders Fehlen von ganzen Gliedmaßen, schwere Spaltbildungen des Kopfes und der
Wirbelsäule usw.,
5. Lähmungen einschließlich Littlescher Erkrankung.“
(Christoph Buhl, Von der Eugenik zur Euthanasie. Eine Spurensuche in Leipzig, Diplomarbeit am Fachbereich Sozialwesen der HTWK, Leipzig 2001.)
Nur Wochen später unterschreibt Hitler die „Euthanasie-Ermächtigung“ an Reichsleiter Philipp Bouhler, Leiter der Kanzlei des Führers, und Hitlers Begleitarzt Karl Brandt. „Das grundlegende Ermächtigungsschreiben Hitlers, das weder ausdrücklicher Befehl noch Gesetz war, wurde wahrscheinlich Anfang Oktober verfasst, aber auf den 1. September 1939 zurückdatiert:
„Adolf Hitler, Berlin, den 1. September 1939 Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann. [gez.] Adolf Hitler“
„Wie effektiv die erbbiologische Erfassung abläuft und welches Ausmaß sie letztlich erreicht, verdeutlicht eine Äußerung des Obersekretärs Hahnefeld, eines Verwaltungsmitarbeiters des Gesundheitsamtes, vom 30. April 1940: „Die Bezirkskarteien der Familienfürsorge wachsen immer weiter an, dass die hierfür vorhandenen Holzkästen nicht ausreichen. Es müssten große geschlossene Karteikästen und Schränke für die abgelegten Karten beschafft werden. Das wird unter den gegenwärtigen Verhältnissen kaum möglich sein, muß aber nachgeholt werden, sobald es die äußeren Umstände gestatten.““
(Christoph Buhl, Von der Eugenik zur Euthanasie. Eine Spurensuche in Leipzig, Diplomarbeit am Fachbereich Sozialwesen der HTWK, Leipzig 2001.)